Was ist ein dramaturgisches Problem und wie löst man es?

Liebe Fan-Gemeinde von Vienna-Filmcoach!

Leider müssen wir euch an dieser Stelle die traurige Mitteilung machen, dass Ip Wischin am 18.11.2023 völlig unerwartet verstorben ist.
Ein Nachruf auf unseren lieben Lehrer, Coach und Freund ist in Arbeit.
Bis dahin Kopf hoch und – ganz in seinem Sinn – möge die Macht mit euch sein!

Marc Miletich, 1. Padavan von Ip

Ein Obdachloser versucht eine Straße zu überqueren, auf der Autos im Stau stecken. Ein besonders luxuriöser Schlitten versperrt ihm dabei den Weg, sodass er kurzerhand frech die eine Wagentüre aufmacht, über die Hinterbank rutscht, die andere Türe öffnet und so hinaus an den Gehsteig gelangt. Dort sitzt ein blindes Bettlermädchen. Sie hört das Zuschlagen der Autotüre und ist sich dessen bewusst, dass hier gerade jemand aus einem Wagen der feinen Gesellschaft ausgestiegen ist...


Der Obdachlose nähert sich ihr, und sie ist überzeugt, dass es sich bei ihm um einen reichen Mann handelt. - Was sich hier literarisch einigermaßen verständlich beschreiben lässt, ist gar nicht leicht in Bildsprache umzusetzen. Was muss der Zuseher sehen, damit er versteht, was das Mädchen denkt? - Diese berühmte Szene aus dem Film „City Lights“ von Charlie Chaplin macht klar, was ein dramaturgisches Problem ist: das Übersetzen eines Gedankens in Zeichen und Handlung. Wie Chaplin dieses spezifische Problem gelöst hat, kann man hier bewundern: 

Im Gegensatz zur abstrakten Malerei, wo der Künstler mit wilden Pinselstrichen seinen Emotionen freien Lauf lassen kann, eignet sich Film nicht zum spontanen Ausdruck ungezügelter Gefühle. Der Prozess vom Gedanken bis zu den laufenden Bildern im Kinosaal ist vielschichtig und erfordert einige technische Kenntnisse. Möglicherweise möchte man den Schauspielern vor der Kamera mehr Freiraum gewähren, damit sie sich emotional entfalten können, aber eigentlich ist Film weniger ein Schauspieler-Medium (wie das Sprechtheater) sondern vielmehr die Kunst tanzender Bilder. Diese Bilder zu planen und sich im Vorhinein vorzustellen, erfordert Fantasie und Raffinesse. Was letztlich vom Filmemacher bearbeitet wird, ist das Erleben durch den Zuschauer. Er wird mit den Mitteln der Ästhetik und der Dramaturgie in seiner Erwartungshaltung und emotional-intellektuellen Disposition manipuliert. Es ist aber selbst für erfahrene Filmemacher oft schwer, die Wirkung einer gespielten Szene abzuschätzen. Um so wichtiger ist es, dass man gewisse wahrnehmungspsychologische Grundlagen kennt, auf die man aufbauen kann.

Nehmen wir ein weiteres berühmtes Beispiel: Hitchcocks „Psycho“ und die darin vorkommende Duschszene. Hitchcock hatte den Stoff aus einem Buch von Robert Bloch, das er im Grunde gar nicht besonders mochte, aber es enthielt ein Element, das ihn reizte, weil es ein interessantes dramaturgisches Problem darstellte: ein Mord „aus heiterem Himmel“. Die Herausforderung dabei ist, dass der emotionale Effekt - der unvermittelte Schrecken - in seiner maximalen Intensität vermittelt werden sollte. Hitchcock erzielte dies, indem er das konstruierte, was man im Englischen einen „red herring“ nennt: einen Köder, der nur der Ablenkung dient. Daraus wurde die Geschichte von den 10.000 Dollar, die Marion Crane unterschlägt, um mit ihrem Liebhaber ein neues Leben anfangen zu können. Hitchcock macht sicher, dass wir uns für den Ausgang der Geschichte interessieren, indem er einen besonders skeptischen Polizisten auftauchen lässt, der Marions Diebstahl beinahe aufdeckt. Dann aber zwingt sie anhaltender Starkregen, in einem entlegenen Motel Unterkunft für die Nacht zu suchen. Der etwas schrullige junge Motelbesitzer hat dann ein langes abendliches Gespräch mit ihr, das sie davon überzeugt, dass sie das Geld zurückbringen muss. Danach geht sie duschen.

Prinzipiell kann man über dramaturgische Probleme beim Film folgendes sagen: Es geht um die Visualisierung einer bedeutungsvollen Transformation, wobei die Herausforderung darin besteht, genuine Mittel einzusetzen. Mit genuinen Mitteln sind Visualisierungsmittel gemeint, die aus der Analyse des spezfischen Problems resultieren, also nicht einfach von woanders, „wo es eh so super gewirkt hat“, abgekupfert werden. Und was ist mit „bedeutungsvoller Transformation“ gemeint? Eine Art magischer Verwandlung, bei der wir Augenzeugen sein dürfen. Z.B. wennn sich in Star Wars der Todesstern in einen Feuerball verwandelt. Das ist nicht nur eine spektakuläre Verwandlung, sie ist auch bedeutungsvoll. Sie besagt, dass die lebensbejahenden Kräfte über eine leblose Technologie siegen können. 

Dramaturgische Probleme haben also mit der Sichtbarmachung von Abstraktem zu tun und deren Lösung verhilft uns zu der Möglichkeit, Gedanken und Gefühle vom Kopf des Filmemachers in den kollektiven Kopf (und das Herz) des Publikums zu senden. Die bewegten Bilder sind dabei nur Mittel zum Zweck.

Damit ich diese Übersetzungsleistung von abstrakten Gedanken zu konkreten Bildern erbringen kann, sollte ich stets drei Grundfragen für mich selbst beantwortet haben, ehe ich mich den Details zuwende:

  1. Was ist es denn überhaupt, das ich zeigen will? Je diffuser meine Gedanken, desto nebuloser meine Umsetzung!
  2. Wie lautet das Problem, um das es für den Zuschauer gehen soll? Fehlt eine klare Problemsicht, so wird sich der Zuschauer nicht angesprochen fühlen. Seine empathifähigkeit bleibt ungenutzt.
  3. Welche Polarität ergibt sich daraus? Jede gute Geschichte spielt in einem Spannungsfeld aus Gegensätzen. Entweder ist es archetypisch der Kampf Gut gegen Böse. Es können aber auch Gegensätze wie alt/jung, progressiv/reaktionär, arm/reich, mächtig/machtlos, Oberschicht/Unterschicht etc. sein. Ein starkes dramaturgisches Spannungsfeld macht es dem Dramaturgen sogleich viel leichter, Unsetzungsvorschläge zu formulieren.

Ich halte dieses Fragenset für elementar und habe es in aller Bescheidenheit „Ip’s Troika“ getauft. Später habe ich es als eine Art Schweizer Taschenmesser interpretiert, das bei allen dramaturgischen Überlegungen immer zuerst zur Anwendung kommen sollte.

Über den Umgang mit diesem und anderen Werkzeugen kann man in meinen kostengünstigen Vorträgen und Workshops mehr erfahren:

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