Welch ein Bedarf wird durch Storytelling gestillt? (Teil 1)

Liebe Fan-Gemeinde von Vienna-Filmcoach!

Leider müssen wir euch an dieser Stelle die traurige Mitteilung machen, dass Ip Wischin am 18.11.2023 völlig unerwartet verstorben ist.
Ein Nachruf auf unseren lieben Lehrer, Coach und Freund ist in Arbeit.
Bis dahin Kopf hoch und – ganz in seinem Sinn – möge die Macht mit euch sein!

Marc Miletich, 1. Padavan von Ip

Stellen wir uns eine moderne Fertigungshalle mit Fließband und Roboterarmen vor. Hier ist alles vollautomatisch. Die Maschinen nehmen die Rohstoffe in Empfang, befördern sie weiter, verarbeiten sie und am Ende wird ein Produkt herauskommen, das in eine Lagerhalle wandert. Stellen wir uns weiter vor, dass durch eine Seuche oder eine andere Katastrophe die Menschheit ausgerottet worden wäre. Die Maschinen aber arbeiten weiter, zumindest solange die Rohstoffe noch im Lager verfügbar sind. Vielleicht aber auch darüber hinaus mit leeren Handlungen. Das Wesentliche ist, dass die Maschinen zwar funktionieren, dass sie aber nicht darüber Rechenschaft ablegen können, dass sie existieren. Sie erleben nicht, was sie tun. Nun könnten wir uns eine Schöpfungsgeschichte vorstellen, in der immer komplexere Lebenssysteme entstehen, die immer besser funktionieren, immer präziser arbeiten und dabei auf ein nicht definiertes Ziel zusteuern. Diese hochkomplexen Lebenssysteme könnten wir mit der Menschheit vergleichen, mit dem einzigen Unterschied, dass diese Organismen so operieren wie die Automaten in der Werkhalle. Sie wissen nicht, dass sie da sind. Sie erleben nicht, was sie tun. Das ist durchaus möglich, denn denken wir nur an unsere Unterhaltungen mit Chat Bots, die bereits scheinbar dermaßen intelligente Antworten geben können, dass wir uns nicht mehr sicher sind, ob am anderen Ende ein Mensch sitzt oder ein Algorithmus. Auch der Algorithmus erlebt nicht was er tut. Komplexe Lebenssysteme, die nicht mit der Fähigkeit zu erleben ausgestattet sind, brauchen keine Stories. Oder etwa doch? Ich behaupte mal, dass Stories eine Form des Erlebens voraussetzen. Stories sind nicht einfach ein Strom an Informationen, die ausgetauscht werden, wie etwa zwischen zwei Computerstationen. Stories sind emergente Wesen, das heißt, sie sind nirgendwo in der materiellen Welt zu finden. 

 

Wo befinden sich die Stories dieser Welt? In Büchern? Eine chemische Untersuchung wird nur Papier und Druckerschwärze finden. Es bedarf eines Geistes, der die Story aus dem Buch herauskitzelt. Wo befindet sich der Geist? Im Gehirn des Menschen? Lässt sich Geist auf die elektrochemische Funktion eines menschlichen Organs reduzieren? Erstreckt sich der Geist nicht vielmehr über die ganze Welt und über alles, was er erfasst? Ist Geist nicht viel mehr als der privatime Betrieb einer Denkmaschine? Sind wir Menschen nicht alle vernetzt im einander Zustimmen und Widersprechen und formiert sich nicht so ein Geist, der über das Individuum hinausragt? Stories sind nicht-materielle quasi-neuronale Netze, die diesen umfassenden Geist zusammenhalten. Eine Story ist erst dann eine Story, wenn sie erzählt wird, wenn sie von Kopf zu Kopf wandert, sich verbreitet und alsdann über allen Häuptern schwebt. 

 

Stories vermögen also zu verbinden und zugleich ein unverbindliches Kollektiv zu schaffen, denn eine Geschichte kann man nicht in dem Sinn ablehnen, wie man eine Maßregel ablehnen kann. Niemand erwartet, dass wir ein Märchen glauben. Es genügt, dass wir es kennen und dass man darauf referenzieren kann. Wenn ich beispielsweise eine bestimmte gesellschaftliche Situation mit dem Märchen von Hans Christian Andersen »Des Kaisers neue Kleider« vergleiche, so kann ich darauf zählen, dass ich verstanden werde, obwohl ich damit vermutlich eine sehr komplexe Situation beschreibe.

 

Stories bestehen aus Orten, Gegenständen und Figuren. Der Ort ist kein Ort, der Gegenstand kein Gegenstand und die Figur keine Figur. Was meine ich damit? Der düstere Märchenwald ist kein realer topographisch auffindbarer Ort. Ebenso wie die Unterwelt in der antiken Mythologie kann der Märchenwald beispielsweise für das Reich des Unbewussten oder Unterbewussten stehen. Auch magische Gegenstände, Waffen und andere Gerätschaften verweisen auf Psychologisches oder Metaphysisches und Figuren sind Verkörperungen menschlicher Prinzipien.

 

Das Universum ist größer als das denkbare oder das vorstellbare Universum; es gibt so etwas wie einen Ereignishorizont der Vorstellung. Unsere Welt der Kausalität ist eingebettet in ein Nest aus Unergründlichkeit: jenseits von Ursache und Wirkung, jenseits der Sprache, jenseits des Auffassungsvermögens… - und dennoch gilt des Menschen höchste Aufmerksamkeit seit Anbeginn seiner Geschichte diesem transzendenten Raum. Mit Mythologie, Opferhandlung, Tabu und Formel umschreibt er ihn - denn dieser allein ist die Quelle der Sinnstiftung. Wer glaubt, dass dies nur für religiöse Weltbeschreibungen gilt, der soll sich nur den Ontologien der Existenzialisten und der Post-Strukturalisten widmen. Hier wimmelt es von quasi-religiösen Interpretationen etwa der Mengenlehre (!), wie es Badiou mit seinen „Mathémes“ vorexerziert. Der Existenzialist hingegen verneint den Sinn und schöpft aus der Negation die Sinnstiftung (ähnlich wie es der Weltgeist eines Hegel tut). Worauf ich hinauswill: Storytelling ist unser Pfad in das Reich des Unbeschreiblichen. Jedes Storyelement verweist auf eine unsichtbare, auf eine abstrakte Welt: die Welt des Logos („am Anfang war das Wort“) mit seinen abstrakten Begriffen und Regeln und den damit verbundenen Paradoxien, die nur der Held der Story auflösen kann. 

 

Teil 2 folgt: Warum Stories nicht im Perfekt erzählt werden und was der Konjunktiv leistet.