Sonntag, 20. März 2022 08:45 Uhr

Der wesentliche Fehler erfolgloser Drehbuchautoren

 In meiner Zeit als Drehbuchautor für den Österreichischen Rundfunk – das ist schon sehr lange her – arbeitete ich auch gelegentlich als Lektor für das Skript Department, wo ich eingereichte Drehbücher auf ihre Tauglichkeit überprüfen musste. Im allgemeinen genügt ein Blick auf die erste Seite, um zu erkennen, ob man es hier mit dem Werk eines talentierten Autors zu tun hat oder nicht. Worauf richtete ich mein Augenmerk? Nun, lasst mich ein wenig ausholen: der französische Kultregisseur und Mitbegründer der Nouvell Vague, François Truffaut (Bild), beklagte, dass man als Filmkritiker permanent mit den Meinungen unbedarfter Laien konfrontiert sei. Während sich kaum ein Normalverbraucher getraut, einem Musikkritiker dreinzureden – beispielsweise, wenn es um die Kritik einer Aufführung einer Bruckner-Symphonie geht – hält sich jeder Kinogeher für einen Experten. Und ebenso, wie jeder Filmkonsument seine Geschmacksäußerungen bereits für fundierte Filmkritik hält, glaubt jeder, der schon ein paar Filme gesehen hat, er habe verstanden, worauf es ankommt. 

Wie erwirbt sich ein professioneller Kritiker, der vielleicht auch Ambitionen hat, selber Kunst zu schaffen, seiner Kennerblick? Die Antwort darauf klingt einfach, ist es aber nicht: um eine Kunst zu verstehen, darf man sie nicht nur auf sich wirken lassen, was man auch als passives Konsumverhalten verstehen könnte, man muss auch dekonstruieren können. Damit ist ein Vorgang gemeint, der oft auch als »reverse engineering« bezeichnet wird. Dahinter steckt die Frage: wie ist das gemacht und wieso erzielt es diese Wirkung?

Wenn ich also ein Drehbuch lese, erkenne ich sofort, ob hier jemand die Sprache des Films verstanden hat, ob er also Konstruktion durch Dekonstruktion gelernt hat. Film ist eine abstrakte Zeichensprache: die Figuren, Requisiten und Bauten bzw. Landschaften sind - und das versteht der Laie nicht - Zeichen mit Bedeutung.  Ein ungelernter Drehbuchautor verfügt nicht über die Fähigkeit, einen Gedanken in filmische Zeichen zu übersetzen, da er nicht zu konstruieren vermag. Er ist also auf bewährte Tropen angewiesen, was nichts anderes heißt, als dass er Klischees ansammelt und neu arrangiert. Man erkennt also sofort die Figuren als zwar psychologisch beobachtet aber für die Gesamtaussage bedeutungslos. Gleiches gilt für die Verwendung von Standardsituationen (Familie am Frühstückstisch, Bettszene, Verfolgungsjagd etc.) und Standardrequisiten (Pistole, Schwert, Telefon, Kaffeetasse etc.), die auch nur standardmäßig verwendet werden: die Pistole schießt, der Besen kehrt, das Auto fährt.

Leider tragen viele Filmlehrbücher zu diesem Missverständnis bei, indem sie sich auf die Struktur als Erfolgsrezept versteifen. Bei Syd Field etwa ist die Handlung eines Films wie eine Wäscheleine, an die man an bestimmten Plot Points mehr oder weniger beliebige Tropen aufhängt. Selbst an vielen Filmschulen und -akademien ist der Lehrkörper überfragt, wenn man sich danach erkundigen will, wie denn der Sinn in den Film kommt. Denn ob eine schießende Pistole als im Kontext sinnvoll empfunden wird oder nicht, macht allen Unterschied der Welt aus.

Filmisches Denken besteht in einer Übersetzungsleistung. Da ist ein abstrakter Gedanke, vielleicht verbunden mit einem Gefühl, den ich als Filmkünstler in eine Zeichensprache - in meine Zeichensprache - übersetze, sodass der Rezipient sie beim Betrachten in den Gedanken und das Gefühl rückübersetzt. Wer auf die Frage „Wie zeige ich, dass Max durstig ist?“ antwortet: „Der Schauspieler, der Max spielt, muss durstig dreinschauen,“ hat noch gar nichts verstanden. Film ist die Kunst, mit einer Kamera auf abstrakte Dinge zu zeigen: Liebe, Verrat, Eifersucht, Ehrgefühl, Todesangst, Hass… - Man muss nur einen Blick auf ein Drehbuch werfen, um zu erkennen, ob der Autor diese unsichtbaren Gegenstände auf originelle Weise sichtbar zu machen versteht, oder ob er lediglich die Oberflächenwirkung seiner Lieblingsfilme imitiert. 

Filmschauen per „reverse engineering“ kann man lernen. Wer sich dafür interessiert, für den habe ich diesen Link

Wir wünschen fröhliches Dekonstruieren!

 

Freitag, 07. Januar 2022 08:54 Uhr

Stellen wir uns eine moderne Fertigungshalle mit Fließband und Roboterarmen vor. Hier ist alles vollautomatisch. Die Maschinen nehmen die Rohstoffe in Empfang, befördern sie weiter, verarbeiten sie und am Ende wird ein Produkt herauskommen, das in eine Lagerhalle wandert. Stellen wir uns weiter vor, dass durch eine Seuche oder eine andere Katastrophe die Menschheit ausgerottet worden wäre. Die Maschinen aber arbeiten weiter, zumindest solange die Rohstoffe noch im Lager verfügbar sind. Vielleicht aber auch darüber hinaus mit leeren Handlungen. Das Wesentliche ist, dass die Maschinen zwar funktionieren, dass sie aber nicht darüber Rechenschaft ablegen können, dass sie existieren. Sie erleben nicht, was sie tun. Nun könnten wir uns eine Schöpfungsgeschichte vorstellen, in der immer komplexere Lebenssysteme entstehen, die immer besser funktionieren, immer präziser arbeiten und dabei auf ein nicht definiertes Ziel zusteuern. Diese hochkomplexen Lebenssysteme könnten wir mit der Menschheit vergleichen, mit dem einzigen Unterschied, dass diese Organismen so operieren wie die Automaten in der Werkhalle. Sie wissen nicht, dass sie da sind. Sie erleben nicht, was sie tun. Das ist durchaus möglich, denn denken wir nur an unsere Unterhaltungen mit Chat Bots, die bereits scheinbar dermaßen intelligente Antworten geben können, dass wir uns nicht mehr sicher sind, ob am anderen Ende ein Mensch sitzt oder ein Algorithmus. Auch der Algorithmus erlebt nicht was er tut. Komplexe Lebenssysteme, die nicht mit der Fähigkeit zu erleben ausgestattet sind, brauchen keine Stories. Oder etwa doch? Ich behaupte mal, dass Stories eine Form des Erlebens voraussetzen. Stories sind nicht einfach ein Strom an Informationen, die ausgetauscht werden, wie etwa zwischen zwei Computerstationen. Stories sind emergente Wesen, das heißt, sie sind nirgendwo in der materiellen Welt zu finden. 

 

Wo befinden sich die Stories dieser Welt? In Büchern? Eine chemische Untersuchung wird nur Papier und Druckerschwärze finden. Es bedarf eines Geistes, der die Story aus dem Buch herauskitzelt. Wo befindet sich der Geist? Im Gehirn des Menschen? Lässt sich Geist auf die elektrochemische Funktion eines menschlichen Organs reduzieren? Erstreckt sich der Geist nicht vielmehr über die ganze Welt und über alles, was er erfasst? Ist Geist nicht viel mehr als der privatime Betrieb einer Denkmaschine? Sind wir Menschen nicht alle vernetzt im einander Zustimmen und Widersprechen und formiert sich nicht so ein Geist, der über das Individuum hinausragt? Stories sind nicht-materielle quasi-neuronale Netze, die diesen umfassenden Geist zusammenhalten. Eine Story ist erst dann eine Story, wenn sie erzählt wird, wenn sie von Kopf zu Kopf wandert, sich verbreitet und alsdann über allen Häuptern schwebt. 

 

Stories vermögen also zu verbinden und zugleich ein unverbindliches Kollektiv zu schaffen, denn eine Geschichte kann man nicht in dem Sinn ablehnen, wie man eine Maßregel ablehnen kann. Niemand erwartet, dass wir ein Märchen glauben. Es genügt, dass wir es kennen und dass man darauf referenzieren kann. Wenn ich beispielsweise eine bestimmte gesellschaftliche Situation mit dem Märchen von Hans Christian Andersen »Des Kaisers neue Kleider« vergleiche, so kann ich darauf zählen, dass ich verstanden werde, obwohl ich damit vermutlich eine sehr komplexe Situation beschreibe.

 

Stories bestehen aus Orten, Gegenständen und Figuren. Der Ort ist kein Ort, der Gegenstand kein Gegenstand und die Figur keine Figur. Was meine ich damit? Der düstere Märchenwald ist kein realer topographisch auffindbarer Ort. Ebenso wie die Unterwelt in der antiken Mythologie kann der Märchenwald beispielsweise für das Reich des Unbewussten oder Unterbewussten stehen. Auch magische Gegenstände, Waffen und andere Gerätschaften verweisen auf Psychologisches oder Metaphysisches und Figuren sind Verkörperungen menschlicher Prinzipien.

 

Das Universum ist größer als das denkbare oder das vorstellbare Universum; es gibt so etwas wie einen Ereignishorizont der Vorstellung. Unsere Welt der Kausalität ist eingebettet in ein Nest aus Unergründlichkeit: jenseits von Ursache und Wirkung, jenseits der Sprache, jenseits des Auffassungsvermögens… - und dennoch gilt des Menschen höchste Aufmerksamkeit seit Anbeginn seiner Geschichte diesem transzendenten Raum. Mit Mythologie, Opferhandlung, Tabu und Formel umschreibt er ihn - denn dieser allein ist die Quelle der Sinnstiftung. Wer glaubt, dass dies nur für religiöse Weltbeschreibungen gilt, der soll sich nur den Ontologien der Existenzialisten und der Post-Strukturalisten widmen. Hier wimmelt es von quasi-religiösen Interpretationen etwa der Mengenlehre (!), wie es Badiou mit seinen „Mathémes“ vorexerziert. Der Existenzialist hingegen verneint den Sinn und schöpft aus der Negation die Sinnstiftung (ähnlich wie es der Weltgeist eines Hegel tut). Worauf ich hinauswill: Storytelling ist unser Pfad in das Reich des Unbeschreiblichen. Jedes Storyelement verweist auf eine unsichtbare, auf eine abstrakte Welt: die Welt des Logos („am Anfang war das Wort“) mit seinen abstrakten Begriffen und Regeln und den damit verbundenen Paradoxien, die nur der Held der Story auflösen kann. 

 

Teil 2 folgt: Warum Stories nicht im Perfekt erzählt werden und was der Konjunktiv leistet.

 

Montag, 03. Januar 2022 10:20 Uhr

 

Angefangen hat es aus meiner Sicht mit den Lehrbüchern von Syd Field und seinen Verallgemeinerungen bezüglich der Struktur von Drehbüchern. Als ich ein Filmstudent – grün hinter den Ohren – war, studierte ich seine Bücher und hielt mich beim Verfassen meiner eigenen ersten Drehbücher an die Anweisungen darin. Erst viel später wurde mir klar, dass die Qualität eines Films nicht darin besteht, dass er eine bestimmte Struktur einhält. Einen guten Film kann man nicht einfach erschaffen, indem man ein „Suppenrezept“ nachkocht. Die Qualität eines Films hängt von der Frage ab, ob es gelingt, magische Momente zu kreieren, ob die Handlung zu diesen magischen Momenten hinführt und sie so aneinanderfügt, dass sie sich tief in das Gedächtnis des Zuschauers eingraben. Wer die Bücher von Syd Field nicht gelesen hat, wird nicht wissen was ich meine, wenn ich seinen Ansatz kritisiere. Syd Field empfiehlt seinen Lesern, ihre Drehbücher in drei Akte einzuteilen, wobei der erste Akt die Geschichte etabliert, die Krise sich im zweiten Akt steigert, bis es im dritten Akt zu einer Lösung kommt. Dieser Lehre zufolge sollte ein Drehbuch 120 Seiten lang sein und beispielsweise der Plotpoint, der in den zweiten Akt führt, sollte unmittelbar vor Seite 30 stattfinden. Ist derlei wirklich die Voraussetzung für einen guten Film?

 

Aber es kommt noch schlimmer: nicht nur, dass uns die Lehrbücher in ein strukturelles Korsett spannen wollen, sie wollen auch, dass wir es mit Gemeinplätzen bevölkern – sogenannten Tropen, die sich immer wieder bewährt haben. Daher der Titel des unsäglichen Buches „Save the Cat“ von Blake Snyder, da er uns empfiehlt, einen Protagonisten sympathisch zu machen, indem dieser am Anfang des Films eine Katze rettet (oder eine vergleichbar rührende Tat vollbringt). Das Problem mit den Lehrbüchern ist immer dasselbe, sie wollen partout aus allem ein „Suppenrezept“ machen. Man vergleiche etwa das Buch „Der Heros in 1000 Gestalten“ von Joseph W. Campbell mit „Die Odyssee des Drehbuchschreibers“ von Christopher Vogler. Ersteres ist eine Bestandsaufnahme der Gemeinsamkeiten von Heldensagen quer durch die Geschichte und Kulturen, während Letzteres eine Anleitung ist, fixe Archetypen in eine vorgegebene Stationendramaturgie zu stellen. Nun sind viele Kreative in der Filmindustrie durchaus mit genug Fantasie begabt, sich durch solche Vorgaben nicht einengen zu lassen. Das Problem ist aber, dass auch die fantasielosen Bosse hinter ihren Schreibtischen die populären Lehrbücher kennen und den künftigen Erfolg eines Projekts – in das ja schließlich Millionen von Dollar investiert werden müssen – danach beurteilen, ob es auf einem Konzept beruht, das sich an die Konventionen hält. Der Schaden: ein Einheitsbrei aus immer neu aufgewärmten Franchises nach vorhersehbaren Formeln mit langweiligen, sinnleeren Superhelden und konstruierten Gimmicks.

 

Der Vorteil, den unabhängige Filmemacher haben, ist der, dass sie nicht nur mangelndes Budget durch Erfindungskraft kompensieren müssen, sondern auch, dass sie formal frei agieren können. Das erste was sie machen sollten, ist, gewisse Lehrbücher aus dem Fenster zu werfen. Für einen Filmemacher etwa wie Werner Herzog ist der Gedanke einer Filmschule absolut abwegig. Für ihn ist es in erster Linie wichtig, die richtigen Guerillataktiken zu beherrschen, um sich Zugang zu Schauplätzen und Ressourcen zu verschaffen. Gibt es tatsächlich sonst nichts, was man lernen kann, wenn man ein erfolgreicher Filmemacher werden will?

 

Die Antwort lautet: doch! Und zwar muss man verstehen lernen, wie ein Film – der ja eine Art Zeichensprache darstellt – beim Zuseher ankommt. Was man also durchaus lernen kann, ist die allgemeine Wahrnehmungspsychologie. Wie pflanze ich einen bestimmten Gedanken in den Kopf des Zuschauers oder ein bestimmtes Gefühl in seinen Bauch? Wenn ich mich nur an bewährte Erzählmuster halte, sozusagen nach dem Motto »das hat schon einmal funktioniert«, so übersehe ich, dass sich die Erwartungshaltung beim Publikum inzwischen geändert hat. Was früher tiefen Eindruck hinterließ, ist nunmehr zum Klischee verkommen. Daher geht es nicht darum, die Storytelling-Karten einfach nur neu zu mischen, man muss alles erneuern, sowohl vor der Kamera als auch am Schnittcomputer - und davor jedenfalls beim Schreiben des Drehbuchs. Die einzige Konstante ist die kollektive Wahrnehmungspsychologie, sodass man sich in erzählerisches Neuland begeben kann, ohne sich vollkommen blind voranzutasten. Den Zuschauer zu spielen wie ein Instrument erfordert nicht nur die Kenntnis des Instrumentes sondern auch permanentes Üben – eben wie bei einem Musikinstrument. Oder, wenn der Vergleich gestattet ist, Film ist wie eine Sprache, die man beherrschen muss, bevor man sich darin ausdrücken kann.

 

In meinen Workshops bemühe ich mich daher, genau diesen Ansatz zu vermitteln, indem wir vergleichen, was sich ein Filmemacher bei einer bestimmten Szene vorgenommen hat, und mit welchen Mitteln er dieses Ziel erreicht hat. Dann machen wir interaktive Übungen, damit man lernt, sich filmisches Denken anzugewöhnen. Es gibt vieles, was man beim Filmschauen erst bemerkt, wenn man einen Begriff dafür gefunden hat. Darum glaube ich, dass man mit einigen grundsätzlichen Dingen vertraut sein sollte, um ewige Anfängerfehler zu vermeiden: Semiotik, Bildgestaltung, Charaktergestaltung, szenische „Aggregatszustände“, Regeln für Dialog, Empathie, Humor, Konfliktanalyse usw. – Wer sich für diesen Ansatz interessiert, den lade ich zum kostenlosen Online-Schnupperkurs am 11. Jänner ein. Einfach hier klicken!

 

Somit bleibt mir nur, euch ein erfolgreiches 2022 zu wünschen und möge es euch gelingen, den Film zu machen, den ihr schon immer sehen wolltet.

 

Euer Vienna Filmcoach

Ip Wischin

Foto: (c) Pinguino Kolb

 

Montag, 04. Oktober 2021 08:34 Uhr

 

Wenn man ein Drehbuch geschrieben hat, dann tut man gut daran, es mehreren Leuten zu Lesen zu geben. Allein schon wegen der eigenen Betriebsblindheit, ist es gut, sich mehrere unterschiedliche Meinungen einzuholen. Dabei gibt es ein großes Problem: die Höflichkeit unter Freunden. Kaum einer wird es dir offen sagen, wenn er dein Geschreibsel für Mist hält. Mit ein bisschen Glück findet man aber einen Bekannten, der ehrlich genug ist, zu sagen, wenn das Drehbuch stinkt. Woran das genau liegt, wird dieser vielleicht nicht sagen können; zumindest aber, dass es vielleicht verwirrend oder langweilig oder banal oder gekünstelt wirkt, dass die Charaktere unglaubwürdig oder steif wirken, dass es viele Klischees gibt, etc. etc. – hier kommt der Skript Doktor ins Spiel. Im folgenden zitiere ich aus meinem Buch »Skript Doktor!«, das vor kurzem erschienen ist:

 

Skript-Doktoren müssen Drehbücher lesen und auf deren Schwächen hin untersuchen. Dann müssen sie Empfehlungen abgeben, wie diese Schwächen bereinigt werden können. Dabei darf Folgendes nicht passieren: Der Skript-Doktor empfiehlt, was ihm selbst gefallen würde. Im Grunde sind schlechte Filmemacher daher oft die besseren Skript-Doktoren, weil sie keinen eigenen Stil verfolgen. Ein guter Skript-Doktor erteilt seinen Rat im Dienste der objektiv besseren Dramaturgie, aber auch einer möglichst genuinen Stilentfaltung bei seinen Klienten. 

 

Mein persönliches Credo ist, dass das bloße Lesen eines Drehbuchs nichts bringt, wenn man daran herumdoktern möchte. Oft erschließt sich die Absicht des Autors aus der bloßen Lektüre nicht. Vielleicht wollte er da oder dort eine komische Szene schreiben, die aber beim nüchternen Lesen eher als bedrohlich wahrgenommen wird. Der Skript-Doktor muss den Autor an den Punkt bringen, an dem er seinen eigenen Film überhaupt erst zu verstehen beginnt. Das Problem dabei ist, dass die meisten Autoren von der naiven Perspektive aus starten, die meint, dass mit Film eine direkte Eins-zu-eins-Erfahrung in Form von geordneten Erlebnishäppchen gestaltet wird, und zwar im Gegensatz etwa zur Literatur, wo der gelesene Satz erst durch den Leser in innere Vorstellung übersetzt werden muss. 

 

Was also tut der Skript Doktor, wenn er es mit einem schlechten Drehbuch zu tun hat? Zunächst einmal wird er mit dem Autor abklären, was dessen Absicht war: Unterhaltung, Humor, Aufzeigen einer wichtigen Botschaft, Aufmerksamkeit in Künstlerkreisen etc. – Dann öffnet der Skript Doktor seinen Erste-Hilfe-Koffer und holt die nötigen Werkzeuge heraus. Dabei handelt es sich meist um analytische Fragen wie solchen nach thematischer Einheit, Deutlichkeit der Dichotomie, Lesbarkeit der Figuren, Kontinuität des Konflikts und immer wieder: wird der Gedanke des Autors adäquat in Bildsprache umgesetzt? Dabei tauchen oft Kardinalfehler auf, wie ich an einem Beispiel schildern möchte: vor einiger Zeit arbeitete ich als Skript Doktor an einem Kurzfilm. Darin wird (im Drehbuch) eine Szene geschildert, in der die Protagonistin in ihrem Zimmer sitzt und Gitarre spielt. Was er denn mit dieser Szene darstellen wolle, fragte ich den Filmemacher (das Drehbuch stammte nicht von ihm). Die Szene solle zeigen, dass die Protagonistin einsam ist. Gitarrespielen ist aber nicht unbedingt ein Zeichen für Einsamkeit. Gewiss hat der Autor an Einsamkeit gedacht, als er sich das musizierende Mädchen vorgestellt hat; filmsprachlich gesehen sagt diese Szene nicht das aus, was der Ursprung des Gedankens war. Darauf muss ein Skript Doktor hinweisen. »Dein Film sagt nicht das aus, was du glaubst, dass er aussagt.« Wie also zeigt man filmsprachlich „korrekt“, dass jemand einsam ist? Dafür gibt es unendlich viele Möglichkeiten, aber sie alle müssen ein wesentliches Element beinhalten: den Gegensatz zu „Geselligkeit“. Wenn dein Film niemals zeigt, was Geselligkeit ist, wird der Gegensatz thematisch nicht darstellbar sein. Das Prinzip ist einfach: du kannst nur zeigen, dass jemand kleinwüchsig ist, wenn er mit normal- oder großgewachsenen Figuren zugleich auftritt. Ich nenne dieses Prinzip »think negative!«

 

Kann man also nun im Dialog zwischen Autor und Skript Doktor aus einem schlechten Drehbuch ein gutes machen? – Man kann. Das hat die Filmgeschichte bewiesen: auch aus einer schlechten Story lässt sich ein guter Film machen, ebenso, wie man eine gute Story vollkommen versauen kann. Viele naive Anfänger glauben, dass mit der Idee und der Story zu einem Film bereits das Wesentliche geleistet sei. Dem ist überhaupt nicht so. Film ist im Wesentlichen eine Übersetzungsleistung. Gedanken werden idealerweise in faszinierende Bilder – oder wie ich sage: Skulpturen aus Licht und Zeit – übersetzt. Wenn wir nach einem gelungenen Filmabend aus dem Kino gehen, so haben wir faszinierende Momente und nicht die Story im Kopf. Hat also dein Drehbuch das Potenzial solche magischen Momente hervorzubringen, so wird es der Skript Doktor finden und gemeinsam mit dir entwickeln.

 

Es ist empfehlenswert, möglichst früh einen Skript Doktor zurate zu ziehen. Oftmals kann der Skript Doktor nämlich, wenn er mit einem fertigen Skript konfrontiert ist, nur noch sagen: »zurück an den Start!« Wer sich für die Arbeit eines Skriptdoktors interessiert und vielleicht lernen möchte, wie man seine eigenen „Patienten“ versorgt, für den habe ich ein Buch geschrieben, das man unter diesem Link bestellen kann. Außerdem gibt es natürlich wieder unsere extrem günstige online-Kursreihe, in der Schritt für Schritt in die Filmsprache eingeführt wird, wie immer mit einem kostenlosen Einsteigermodul zum Schnuppern. Zu einer Übersicht meines Angebotes geht's hier.

 

Die Kunst eines Skriptdoktors ist leider nicht ganz so simpel, wie es uns viele Filmlehrbücher vermitteln, aber sie ist durchaus erlernbar. Ich freue mich auf viele neue künftige Berufskollegen.

 

cinephile Grüße

Euer Vienna Filmcoach

Ip

 

 

 

 

 

Dienstag, 29. Dezember 2020 15:22 Uhr

Charaktere als Zeichen

 

Schriftzeichen werden im Englischen auch „characters“ genannt. Das griechische Wort, von dem „Charakter“ abstammt, bezeichnet ein Prägeinstrument, mit dem Zeichen eingraviert werden können. Charaktere sind Schriftzeichen. Jedenfalls im Film. Der Sheriff steht für Recht und Ordnung, so wie es etwa das chinesische Schriftzeichen 法 tut. Werden Charaktere falsch gebraucht, so ist das wie schlechte Orthographie, die den Text oft unleserlich macht. Charaktere, die im Verlauf einer Filmhandlung ihre Eigenheiten einbüßen, werden als schlechter Text empfunden. Beispielsweise die enorm erfolgreiche HBO-Serie Game of Thrones verlor all ihren Glanz, als die Autoren sich - nach einem hirnverbrannten Trend in der Filmindustrie - darauf versteiften „Erwartungen zu untergraben“ („subvert expectations“). So wurde etwa der kleinwüchsige, pfiffige Lebemann Tyrion Lannister in der letzten Staffel zum ratlosen Verlierer und sogar zum Verräter, was ihn als Charakter plötzlich unleserlich machte. Die ganze Serie verlor mit einem Male ihre Faszination, denn auch viele andere Charaktere wurden ähnlich „untergraben“.

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Der große Philosoph Sir Roger Scruton meinte, dass man Mythen nicht beliebig erfinden kann. Mythen sind Beschreibungen des Jenseitigen mit den Mitteln der Welt. Was immer über die Welt des Metaphysischen, des Transzendenten, des Abstrakten gesagt werden kann, der Mythos beweist, dass man sehr wohl etwas darüber sagen kann und dass dieses Etwas sogar richtig oder falsch sein kann. Denn eine Geschichte wird nur dann zum Mythos, wenn sie als wahrhaftig empfunden wird. Letztlich wird die Historie darüber entscheiden, was bleibt und was vergessen wird. 

 

Wir haben bereits erörtert, inwiefern Charaktere in Filmen hinsichtlich ihrer Schnittstellenfunktion dekodiert werden können. Ein Film-Ereignis wie „der Sheriff fällt auf die Nase“ kann auch als „das Gesetz fällt auf die Nase“ gelesen werden, wie immer man das auch auslegen mag. 

 

Charaktere in Filmen sind idealerweise Repräsentanten aller in einer bestimmten Thematik relevanten Aspekte. Sie verkörpern Konzepte, Prinzipien, Eigenschaften - manchmal auch Mentalitäten oder soziale und politische Positionen. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Film Stagecoach, der bei uns unter dem Titel  Ringo lief. Es ist dies der erste Western, den der legendäre John Ford mit seinem künftigen Lieblingsstar John Wayne drehte. Der Film handelt von einer Postkutschenfahrt durch gefährliches Territorium. Die Insassen der Kutsche repräsentieren die wesentlichen Charakteristika der sich selbst findenden amerikanischen Nation. Im Zentrum der Handlung steht der von John Wayne gespielte Ringo, der alle Eigenschaften eines „guten Amerikaners“ repräsentiert. Er ist bodenständig, optimistisch, hilfsbereit und greift im Dienste der Gerechtigkeit auch mal gern zur Waffe. Er empfindet sich selbst als Underdog, glaubt aber, dass er sich aller Widrigkeiten zum Trotz ein Leben als ehrlicher Farmer aufbauen kann. Ihm zur Seite ist die „Nutte mit dem goldenen Herzen“, ein weiterer Underdog, die glaubt, für Ringo zu schlecht zu sein. Und noch ein Underdog ist mit von der Partie: der ewig besoffene Arzt Doc Boone, der seine Praxis aufgegeben hat und vor der Scheinmoral der Kleinstadt auf der Flucht ist. Er verliert sein Herz an einen fahrenden Whiskeyhändler; das heißt, nicht an ihn selbst sondern an seine Warenkollektion. Auf der Flucht ist auch der Banker Gatewood, der einen Koffer voll unterschlagenem Geld mit sich führt. Und dann ist da noch ein notorischer Glücksspieler, der sich als Kavalier gegenüber einer Dame der besseren Gesellschaft versucht und ihr, die sie schwanger und auf der Suche nach ihrem Gatten, einem Kavallerieoffizier, ist, seinen Schutz anbietet. Die Kutsche wird von einem freundlichen Einfaltspinsel gelenkt, an dessen Seite der Sheriff für Recht und Ordnung sorgt. Auf diesen Pfeiler ruht also die Nation: Underdogs, Nutten, Glücksspieler, korrupte Banker, Snobs, ehrliche Kleinhändler, einfältige Führer, gewiefte Gesetzeshüter - ein buntes Sittenbild, das so falsch nicht sein kann, denn der Film wurde ein großer Erfolg und ist bis heute ein Kultklassiker. 

 

Charaktere können in Filmen zwei wesentlichen Funktionen genügen. Zum einen können sie dazu beitragen, dass die Problemstellung des Films verstärkt und verdeutlicht wird - wir nennen das Problemaugmentierung - , zum anderen können sie etwas zur Atmosphäre beitragen, indem sie beispielsweise Lokalkolorit vermitteln. Im Grunde dienen alle funktionalen Charaktere der Problemaugmentierung, egal ob sie positiv oder eher negativ gezeichnet sind. Wir nennen das auch das Drache-Prinzessin-Prinzip: wenn der edle Ritter die holde Prinzessin vor dem bösen Drachen retten soll, so gilt, je schrecklicher der Drache und je holder die Prinzessin, um so größer das Problem für den edlen Ritter, denn das eine erhöht die Gefahr, das andere den Druck zu handeln. Wir können somit für jede Figur den „Problemaugmentierungsfaktor“ („PAF“) benennen: 

 

  • Prinzessin: hilflos und hold
  • Drache: lebensgefährlich
  • Ritter: ?

 

Ja, was zeichnet den Ritter aus? Er ist derjenige, der handeln muss; der seine Handlung nicht delegieren kann. Er ist das Vehikel für unser empathisches Erleben der Handlung. Wir werden darüber mehr erfahren, wenn wir die Rolle des Helden in einer Geschichte erörtern.

Montag, 23. März 2020 10:46 Uhr

Semiotik: das ist die Welt der Zeichen. Semiologie: die wissenschaftliche Klassifizierung der Zeichen und ihrer soziologischen Bedeutung. An den meisten Europäischen Medienakademien und Filmschulen wird Semiotik als etwas Selbstverständliches unterrichtet. Die Werke des französischen Pop-Philosophen Roland Barthes gehören dabei zur Pflichtlektüre. Für lange Zeit habe ich das alles nicht hinterfragt. Erst relativ spät erkannte ich, dass es auf dem Gebiet der Zeichenlehre durchaus unterschiedliche Auffassungen gibt.

Semiotik